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KLEINWIND:
"Unter Ingenieur-Gesichtspunkten ein Traum"
Die Neumayer-III-Polarstation setzt für ihr neues Energiekonzept auf vier kleinere Windturbinen, die sich unter extremen Bedingungen bewähren müssen.
 
Wenn auch nicht in großer Stückzahl, so gehören Kleinwindanlagen auf Feldern, an Kläranlagen oder auf Hallendächern mittlerweile zum Alltag. Normale, vertraute Standorte.

Der mit Abstand unwirklichste und härteste Einsatzort einer deutschen Kleinwindanlage ist zweifellos unter den Geokoordinaten 70 Grad, 40 Minuten Süd, 8 Grad, 16 Minuten West zu finden. Und zwar in der Antarktis an der Küste des Südpolarmeeres im sogenannten Königin-Maud-Land. Temperaturen von bis zu minus 50 Grad und Windgeschwindigkeiten, die 50 Meter pro Sekunde und mehr erreichen können, sind an dem Standort keine Seltenheit. Außerdem gibt es jedes Jahr einige Wochen zwischen Ende Mai und Ende Juni, an denen die Sonne nicht über den Horizont kommt.

Dort, noch einige Hundert Kilometer vom Südpol entfernt, ist seit dem Frühjahr 2009 eine Enercon-Anlage vom Typ E-10 mit 30 kW Leistung in Betrieb. Das kleine Windrad ist Teil des Energiekonzepts für die Neumayer-Station III des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), Deutschlands südlichster Arbeitsstätte.

Dafür, dass alle Labore mit ihren Messgeräten und Computern genügend Saft haben und die Forscher in wohliger Wärme arbeiten und leben können, sorgt neben der Kleinwindanlage ein Blockheizkraftwerk mit drei Dieselgeneratoren. Ein weiterer Generator steht als Notstromaggregat zur Verfügung. „Wir setzen speziellen Polardiesel mit einem geringen Paraffinanteil ein, um die Fließfähigkeit des Kraftstoffs zu erhalten. Ansonsten würde der Diesel kristallisieren und nicht mehr zu pumpen sein“, erklärt AWI-Mann Peter Köhler. Als einer der beiden technischen Koordinatoren am AWI-Sitz in Bremerhaven ist er für den Betrieb der im Frühjahr 2009 eingeweihten dritten Neumayer-Forschungsstation verantwortlich.

Ihn beschäftigen seit Monaten Pläne und Ideen, die Polarstation auch für ihre zweite Lebenshälfte fit zu halten. Beschlossene Sache ist ein neues Energiekonzept: „Wir wollen unseren ökologischen Fußabdruck verbessern und unseren CO2-Ausstoß um 70 Prozent reduzieren“, betont Köhler. Dazu ist vorgesehen, nicht nur den Betrieb der BHKW-Module zu optimieren. Bis Mitte der 2020er-Jahre sollen am Stationsgebäude auch leistungsfähige Solarmodule installiert und davor vier Vertikalachser mit jeweils 50 kW Leistung errichtet werden, die der belgische Hersteller Fairwind liefern wird.

Das Ziel: eine CO2-Reduktion um 70 %

Dass sich das AWI-Team für Fairwind entschieden hat, kommt nicht von ungefähr: „Enercon hat keine kleinen Anlagen mehr im Angebot, außerdem haben wir früher gute Erfahrungen mit einem Vertikalrotor gemacht“, erklärt Köhler. Bei der Vorgängerstation Neumayer II hatte ein H-Darrieus-Rotor mit einer Nennleistung von 20 kW dafür gesorgt, dass der jährliche Dieselverbrauch um bis zu 20.000 Liter gesenkt werden konnte. Der Windstrom wurde damals wie heute und wird auch künftig teilweise fürs Heizen genutzt. „Wir sind von der Robustheit des Vertikalrotors überzeugt“, resümiert AWI-Koordinator Köhler.

Diese Robustheit ist auch unverzichtbar. „Der Einsatz einer Windenergieanlage, egal wie klein oder groß sie auch sein mag, stellt allerhöchste Herausforderungen an die Technik und die ausgewählten Komponenten“, sagt Professor Holger Lange. Der Windkraftexperte von der Hochschule Bremerhaven hat die Polarforscher bei der Auswahl ihrer neuen Kleinwindanlage unterstützt. Damit beispielsweise Generator, Lager, Harze oder Kleber den Extrembedingungen kurz vor dem Südpol standhalten, werden sie alle vor dem Einsatz „polaroptimiert“ und anschließend in einer Kältekammer getestet.
 
Einsatz unter Extrembedingungen: die kleine Enercon-Anlage E-10 in Sichtweite der Neumayer-III-Polarstation
Bild: Alfred-Wegener-Institut

Was ins Geld geht. „Die für Neumayer III vorgesehenen Komponenten der Windturbinen sind Spezialanfertigungen“, weiß Lange. Viel Geld wird Fairwind nach eigener Einschätzung mit den vier vom AWI bestellten Vertikalrotoren, von denen der erste Anfang 2023 aufgestellt werden soll, nicht verdienen. Die Motive des Windturbinenherstellers dürften anderer Natur sein. „Sicherlich spielt auch ein Stück Reputation mit“, meint Lange, „es könnte sich für Fairwind aber auch ein ganz neuer Nischenmarkt eröffnen: Nachdem die AWI-Pläne bekannt geworden sind, zeigen auch andere Nationen, die Forschungsstationen am Südpol unterhalten, plötzlich Interesse an der Windkraft.“ Auf das Projekt im Königin-Maud-Land freut sich der Hochschulprofessor: „Unter Ingenieursgesichtspunkten ist ein solches Vorhaben ein Traum.“

Die Technik der Kleinwindanlage ist eine besondere Herausforderung, aber auch der Standort selbst. Neumayer III steht nicht auf steinigem Untergrund, sondern auf driftendem Schelfeis, das sich jährlich rund 160 Meter in Richtung Küste bewegt. Außerdem schneit es dort in schöner Regelmäßigkeit, was die Schneehöhe jedes Jahr um einen Meter wachsen lässt. Damit die rund 2.300 Tonnen schwere Polarstation eines Tages nicht im Schnee versinkt, haben die AWI-Ingenieure eine hydraulisch hochfahrbare Stelzenplattform entwickelt − eine Premiere in der Geschichte der deutschen Polarstationen. 16 hydraulische Stelzen heben die Forschungsstation jedes Jahr um rund einen Meter an.

Ein solches System wird es für die Vertikalrotoren nicht geben. „Wir werden jedes Jahr den Mast aus kaltfestem Stahl um mindestens einen Meter verlängern müssen“, sagt der AWI-Technikkoordinator. Was sich einfacher anhört, als es in der Realität sein wird. „Mit unserem vor Ort stationierten Raupenkettenkran werden wir jedes Mal den Rotor abmontieren und -heben müssen“, so Köhler, „was ein erheblicher Arbeitsaufwand ist.“ Noch ist es nicht so weit. Anfang 2023 soll die erste Fairwind-Anlage in Sichtweite der Neumayer-III-Polarstation errichtet werden, bis 2025 folgen die weiteren drei Anlagen. Dann dürfte dort der größte Windpark in Nähe des Südpols in Betrieb gehen.

Ob er sich die Fairwind-Anlagen eines Tages vor Ort anschauen wird, vermag der Bremerhavener Windkraftexperte Lange heute noch nicht zu sagen: „Auf jeden Fall ist das AWI-Projekt Werbung für Windturbinen kleinerer Bauart, die unter Extrembedingungen zeigen, was in ihnen steckt.“
 

Ralf Köpke
© 2024 Energie & Management GmbH
Montag, 07.06.2021, 08:14 Uhr

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