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Enerige & Management > Aus Der Aktuellen Print-Ausgabe - Den Stein endlich ins Rollen bringen
Bild: Bild: Siemens
AUS DER AKTUELLEN PRINT-AUSGABE:
Den Stein endlich ins Rollen bringen
Eine deutliche Diskrepanz zwischen technischer Reife und regulatorischer Behäbigkeit beklagten Teilnehmer einer Podiumsdiskussion zum Thema lokale Strom- und Flexibilitätsmärkte.
 
„Wir müssen reden“, brachte Ralf Kortner, Global Head of Microgrids bei Siemens, das Dilemma beim Thema „Lokale Energiemärkte“ gleich zu Beginn der Veranstaltung auf den Berliner Energietagen auf den Punkt − die unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Forschung und Industrie auf der einen und Politik und Regulierungsbehörden auf der anderen Seite.

Kortner umriss die grundlegende Bedeutung lokaler Strom- und Flexibilitätsmärkte: 
Auf Erzeugerseite müssten bald Millionen dezentraler Kleinanlagen integriert werden, zugleich gebe es dadurch für die Netzstabilisierung immer weniger rotierende Massen, aber immer mehr Inverter-basierte Erzeugung. Ähnliche komplex stelle sich die Situation auf der Verbraucherseite dar: eine immer größere Vielfalt dezentraler Verbraucher wie Wärmepumpen, E-Autos oder stationäre Speicher − alle mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften. „Eine Wallbox hat typischerweise einen höheren Spitzenenergieverbrauch als der ganze sonstige Haushalt zusammen“, machte er die Problematik deutlich. 

Wenn in dieser Situation die Energiewende zeitlich machbar und finanziell bezahlbar bleiben soll, müsse ganz klar eine Prämisse gelten: „Alles, was sich lokal lösen lässt, müssen wir auch lokal lösen. Das ist Stress, den ich vom Gesamtsystem wegnehmen kann.“ Zu diesen lokalen Lösungen gehörten zum Beispiel Microgrids und Arealnetze, vor allem aber auch lokale Energie- und Flexibilitätsmärkte. Die Energiewende werde an diesem „Grid Edge“, dem Netzwerkrand, entschieden − und die Technologie dafür existiere schon heute: „Wir stülpen gerade unser komplettes Energiesystem um. Die Message ist: Die Zeit für Experimente ist vorbei, jetzt müssen wir umsetzen, wir können nicht länger warten!“ 

Allerdings brauche es dafür konkret die Unterstützung der Politik, denn die regulatorischen Rahmenbedingungen entschieden, was passiert und was nicht. In diesem Zusammenhang stellte Kortner fünf konkrete Forderungen auf:
  • Neue Marktdesigns müssen es ermöglichen, lokal Kilowattstunden und Flexibilität zu handeln.
  • Die Netznutzungsentgelte müssen in Abhängigheit von Netzebene und Auslastung dynamisiert werden.
  • Veränderte Anreizregulierung: „Heute wird incentiviert, so viel Kupfer wie möglich zu verbauen.“ Das System sei so umzubauen, dass stattdessen smarte Lösungen attraktiv werden, die günstiger für das Gesamtsystem sind.
  • Das System von Abgaben und Steuern braucht eine komplette Überarbeitung, um den dezentralen Austausch von Energie und Flexibilitäten zu ermöglichen. 
  • Entbürokratisierung im Energierecht: „Wenn ich heute als Prosumer nur eine Kilowattstunde außerhalb des EEG handeln möchte, muss ich de facto durch den gleichen Prozess wie ein Energieversorger.“
Unterstützung bekommt Kortner von Michael Lucke, Chef des Verteilnetzbetreibers Allgäuer Überlandwerk (AÜW) − neben Siemens einer der wesentlichen Partner im Projekt Pebbles, dem bereits weit fortgeschrittenen Prototypen eines lokalen Strom- und Flexibilitätsmarktes, der seit einem halben Jahr im bayerischen Wildpoldsried erprobt wird (siehe Kasten). „Wenn wir die Ausbaukosten runterbringen und zugleich Anreize für Kunden schaffen wollen, dann müssen wir in ein neues Marktdesign hineindenken“, so Lucke. Das bedeute: „Wir kommen gar nicht drumherum, räumlich und zeitlich differenzierte Netzentgelte zu schaffen, damit der Verteilnetzbetreiber sein Netz optimal ausrichten und den Kunden und Produzenten Anreize geben kann.“

Grundsätzlich einig waren sich bei der virtuellen Podiumsdiskussion auch Politikerinnen unterschiedlicher Couleur, dass Handlungsbedarf in Bezug auf lokale Strom- und Flexibilitätsmärkte herrscht. Angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl im Herbst fiel das Timbre aber doch unterschiedlich aus.
 
IT und Idylle: Im beschaulichen Wildpoldsried wird beim Projekt Pebbles der direkte Handel von Strom und Flexibilität zwischen dezentralen Erzeugern und Verbrauchern erprobt
Bild: Siemens

So verwies die Bundestagsabgeordnete Anja Weisgerber (CSU) auf die Neufassung des EEG Ende vergangenen Jahres, „mit der wir wichtige Weichen gestellt haben, etwa um den Prosumer im Bereich der PV zu stärken“. Sie räumte aber auch ein, dass noch Bürokratie abgebaut werden müsse, etwa im Bereich der intelligenten Messsysteme, um zum Beispiel Speichersystemen leichter die Teilnahme an Marktplätzen zu ermöglichen.

Ihre Parlamentskollegin Julia Verlinden (Grüne) verwies darauf, dass die Europäische Union viele gute Vorschläge auf den Weg gebracht hat, wie man Energiegemeinschaften und Bürgerenergie stärken kann. „Ich bedauere, dass die Bundesregierung das, was diese Richtlinie vorsieht, noch nicht zum Anlass genommen hat, es umzusetzen.“

Man diskutiere zwar gerade im parlamentarischen Prozess eine Teilumsetzung, aber das Wichtigste sei nicht darin enthalten, „nämlich dass man mal in einer Analyse die Potenziale und Hemmnisse evaluiert und einen konkreten Rahmen schafft auch für P2P-Energiehandel oder Energy Sharing vor Ort“. Dazu gehöre ganz konkret auch eine Reform des Abgaben-, Umlagen- und Steuersystems im Energiesektor, um variable Netzentgelte bekommen.

Zum Abschluss richtete Albrecht Reuter, Leiter des großflächig angelegten Forschungsprojekts C/sells, einen Appell an die Politik: „Wir sind überzeugt, dass zellulär organisierte Energieinfrastrukturen am besten geeignet sind, um die nahezu vollständige Marktdurchdringung von Erneuerbaren zu bewerkstelligen und die Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern und der Wirtschaft zu ermöglichen.“ 

Die dazu notwendigen Technologien und die Interoperabilität würde man aber gern der Industrie und den Verbänden überlassen, nicht den Regulierungsbehörden. Die Vergangenheit habe gezeigt, dass die „Zeiträume, in denen dort nachgedacht“ werde, für die Energiewende einfach nicht passend seien.
 

Lokale Märkte stehen in den Startlöchern

Pebbles (engl. für Kieselstein) steht für „Peer-to-Peer-Energiehandel auf Basis von Blockchains“. Ziel der Plattform ist es, einen direkten Handel sowohl von Strom wie auch von Flexibilität zwischen privaten Erzeugern innerhalb einer lokal begrenzten Zone zu ermöglichen. Entwickelt wurde Pebbles von Siemens, dem Allgäuer Überlandwerk (AÜW) und weiteren Partnern am Energiecampus Wildpoldsried im Allgäu (Bayern). Im Oktober 2020 hat dort die Demonstrationsphase der Plattform begonnen: Bis zum November 2021 können private Stromproduzenten mittels einer App ihren Strom direkt an lokale Verbraucher vermarkten − ohne Umweg über einen Direktvermarkter oder Stromversorger. Zumindest virtuell: Aus regulatorischen Gründen fließt noch kein echtes Geld zwischen Anbietern und Abnehmern.
Pebbles ist nur eines von einer ganzen Reihe von Projekten, in denen lokale Märkte für den Handel mit Strom und/oder Flexibilität erprobt werden. Weitere Vorhaben sind zum Beispiel SmaaS (Smart Microgrids as a Service), ETIBlOGG (Energy Trading vIa Blockchain-Technology in the LOcal Green Grid) oder RegHEE (Regionale Handelsplattform für erneuerbare Energien). Andreas Bogensperger von der Münchner Forschungsstelle für Energiewirtschaft, der das Feld beobachtet, betont deren hohen Reifegrad: „Alle Projekte sind im Feld, sammeln Erfahrungen und es werden teilweise schon Produkte daraus abgeleitet.“ 
 

Peter Koller
Redakteur
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Freitag, 04.06.2021, 09:03 Uhr

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