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Enerige & Management > Vertrieb - Lückenfüller, die nie klagen
Bild: Fotolia, Photo-K
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Lückenfüller, die nie klagen
Für viele Energieversorger bedeutet Corona: mehr Kundenanfragen, weniger verfügbares Personal. Chatbots können Entlastung bringen.
 
Renke war ein typischer Ostfriese: Vollbart und Ölzeug. Er sagte immer „Moin“, konnte schnacken und Ostfriesenwitze erzählen. Renke war der Kundendialog-Chatbot der Stadtwerke Aurich. Der automatische Sprechblasenerzeuger wurde im Februar 2020 abgeschaltet. Im März, als der erste Corona-Lockdown auch das Kundenzentrum betraf, wünschte man sich bei dem jungen Versorger, man hätte noch ein wenig zugewartet.

Für die Auricher ist das letztlich müßig: Das junge Stadtwerk wird geschlossen, weil der Kommune die Geduld ausgeht. Der aktive Vertrieb ist seit Juni eingestellt.
Die übrig bleibenden Energieversorger stöhnen derweil weiter über coronabedingt häufigere Kundenanfragen, während Servicekräfte im Homeoffice mehr schlecht als recht an die Geschäftsprozesse angebunden sind. In dieser Situation schlägt die Stunde der Chatbots und anderer Digitalisierungen. Nicht von ungefähr hat Pro Energy Consult mit Partnern während des ersten Lockdowns ihrem Chatbot-Angebot ein Corona-Krisenkommunikationsmodul an die Seite gestellt.

Nicht alle haben Energiekompetenz

Thomas Stock, Produktmanager beim Wettbewerber Trurnit Digital, beschreibt die Vorteile von Chatbots: „So erhalten Mitarbeiter mehr Freiraum, um auf Einzelfälle einzugehen, während rund um die Uhr erreichbare virtuelle Assistenten sich effektiv um die Standardanfragen kümmern. Insgesamt steigt so messbar die Kundenzufriedenheit.“ Trurnit sieht sich gemeinsam mit ihrem Technologiepartner Onlim als Marktführer bei Installationen für Energieversorger im deutschsprachigen Raum. In Deutschland könnten diesen Titel aber auch Heidelberg Services (HSAG) oder Pro Energy Consult zusammen mit Addbots und den Stadtwerken Troisdorf für sich in Anspruch nehmen.

Insgesamt hat jedoch nur gut ein halbes Dutzend Anbieter Energiekompetenz (siehe Tabelle). Renke war von Defacto, die E&M genauso wenig vor Redaktionsschluss antwortete wie Adesso, Assono oder die Rhenag.

Ein Bot könnte die Cost to Serve (CTS) senken, also die Kosten, um einen Kunden zu halten: Seine Lizenz kostet weniger als der Mindestlohn, er wird nie krank, hat selten Urlaub und kündigt nie, streikt nicht, streitet sich nie mit den Kollegen und braucht keine eigene Bürofläche mit Corona-Abstand.

Bei Eprimo, mit 1,5 Mio. Kunden die größte Zweitmarke eines deutschen Versorgers − mittlerweile Teil des Eon-Konzerns −, macht „Sophie“ bereits 30 bis 35 % des Kontaktvolumens aus, so Mario Wittke, Product Owner ihres Digital Service. Täglich führt Sophie mittlerweile 3.000 Chats. „Viele Leute, die zu Hause bleiben mussten, hatten plötzlich Zeit, sich um Dinge zu kümmern“, hieß es im Mai in einer Unternehmensmitteilung. Eprimo vermarktet Sophie allerdings nicht an Wettbewerber. Hinter ihr steckt ein Master-Chatbot von Adesso.

Anliegen muss abschließend bearbeitet werden

Anbieter von Chatbots gibt es viele. Aber Dialogroboter im Endkundengeschäft mit Energie müssen wenigstens repetitive Standardprozesse beherrschen, da diese zumeist der einzige Grund sind, warum die Verbraucher mit ihrem Versorger Kontakt aufnehmen: Zählerstand durchgeben, Abschlag ändern, an- und abmelden, umziehen, den Tarif wechseln, aber auch Störungen durchgeben.

Ihr Automatisierungspotenzial schöpfen Chatbots erst aus, wenn sie die Sprechblasen der Kunden nicht nur verstehen, sondern in Echtzeit in den Backend-Systemen der Versorger plausibilisieren und speichern. Und die Branche ist speziell: Extra auf sie zugeschnittene Unternehmenssteuerungs- und Abrechnungs(ERP)-Software ist allgegenwärtig, das sektorale Recht stark ausgeprägt. Durchschnittliche Mehr-Sparten-Versorger haben 600 Geschäftsprozesse, denen mehr als 7.000 Aufgaben zugeordnet werden müssen, sagte Dirk Fieml, Geschäftsführer bei TKT Vivax, im vergangenen Oktober in einem Webinar des Prozesskostenberaters. Wenn da ein Chatbot nichts mit SAP IS-U oder den etwa zehn anderen ERP-Landschaften anfangen kann, müssen Menschen nacharbeiten. Dann hätten sie besser selbst gechattet. Erfolgskritisch ist: Wie häufig erledigen die Bots die Anliegen ihrer Chatpartner abschließend?
 
Die Chatbot-Ausrichtung ist immer eine Frage des Use Case
Bild: Trurnit/Evi Ludwig

„Letztlich ist die Chatbot-Ausrichtung immer eine Frage des Use Case und entsprechend konfigurierter Inhalte, sogenannter Intents“, erklärt Thomas Stock von Trurnit Digital. Ein weiterer Vorteil von Chatbots ist, dass sie in ihren Use Cases mithilfe künstlicher Intelligenz (KI) oder Machine Learning immer treffsicherere Antworten geben. Use Cases sind die Anwendungsgebiete, in denen Fachleute sie mit Intents füttern. Das sind Themenbibliotheken mit jeweils mehreren typischen Fragen und erwünschten Antworten.

Was bedeutet KI? Sven Semet, Thought Leader für die Augmented-Intelligence-Software IBM Watson, definiert sie als die Fähigkeit, unstrukturierte Daten zu lesen, zu verstehen, sich mit Experten darüber auszutauschen − etwa mit Backend-Systemen − und daraus zu lernen. Trurnit/Onlim etwa verwendet vortrainierte Chatbots mit typischen Energie-Intents.

Vom Text übers Foto zur Stimme

Mit Text umzugehen, ist die einfachste Herausforderung für Bots. Der nächste Schritt ist das Auslesen von Fotos. Die KI des Start-ups Messenger People liest Zähler- oder Rechnungsfotos automatisch aus, die die Endkunden per Whatsapp und Co. schicken. Sie plausibilisiert und speichert sie im CRM-System. „Das ist für alle einfach, schnell und komfortabel“, so Stefan Gehrig. Er leitet bei Harz Energie, einem der Kunden von Messenger People, den Kundenservice.

Von Texten und Fotos aus geht es weiter zur Stimme: Seit August 2020 können 14.000 Endkunden im Bereich der Braunschweiger BS Netz ihre Gaszählerstände telefonisch an einen Voicebot übermitteln, bevor sie von L- auf H-Gas umgestellt werden − ohne Warteschleife, aber mit Bestätigung. Projektleiter Tobias Kowalik spricht begeistert von einer Kundenantwortquote von 60 %. Jeder dritte Plausch mit dem Bot fand außerhalb der Geschäftszeiten statt. Der Voicebot ist ein Kooperationsprodukt von Trurnit, Onlim, Intelegence und Komdia, der Digitalisierungsagentur der BS-Netz-Mutter BS Energy.

HSAG entwickelt derzeit einen Voicebot, denkt laut über eine Integration in Sprachassistenten von Big-Data-Konzernen nach und forscht zusammen mit dem Karlsruher Institut für Technologie an den idealen Bedingungen, unter denen der Bot an einen menschlichen Servicekollegen abgibt.

Auch thematisch erweitern sich die Chatbots mit Intents über die herkömmlichen Energiegeschäftsprozesse hinaus: Pro Energy Consult entwickelt Module für Breitband sowie für Energiedienstleistungen (EDL) und E-Mobilität. Und HSAG arbeitet derzeit an einem Telekommunikations-„Skill“ (Fertigkeit).

Fichtner IT Consulting (FIT) und ihr Technologiepartner Formware wiederum planen einen Solar-Lead-Generator. Ihr Chatbot ist Modul einer recht neuen branchenspezifischen CRM-Plattform von FIT. Die Partner haben vor, ihren Bot auch an Mobil-Apps anzubinden und über ihn Bezahlvorgänge zu automatisieren. Sparqs hat ihren Chatbot in die neue Plattform „hubtastic.io“ integriert. Er kann auch kleine Spiele, andere Sprachen oder Zwei-Faktor-Authentifizierung. Er berichtet an die Menschen im Service und übergibt an sie. 

Auch Bots für interne Zwecke werden entwickelt

Für Pro Energy Consult soll sich ein Bot nicht mit Diensten für Betriebsfremde begnügen. „Wir implementieren derzeit einen Chatbot für den internen Einsatz im Kundenservice eines mittelgroßen Stadtwerks in NRW“, schreibt Gesellschafterin Kathrin Kubny. Mitarbeiter werden dann den Bot als Wissensbasis anzapfen und damit, so die Hoffnung, einige Rückfragen in die Fachabteilungen überflüssig machen.

Renke aus Aurich allerdings bekam in seinem zehnmonatigen Leben maximal 100 inhaltliche Anfragen, erzählt ein Kenner. Im ländlichen Bereich sei eher der zwischenmenschliche Schnack geschätzt, vermutet er. Interessanterweise brachen viele Frager vom Facebook-Messenger aus bei der Datenschutzeinwilligung ab, während sie diese bei Whatsapp akzeptierten. Renke war wohl einfach zu früh und zu spät. E&M
 

Georg Eble
Redakteur
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Montag, 01.02.2021, 08:56 Uhr

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