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Enerige & Management > Aus Der Aktuellen Zeitung - Klotzen statt kleckern
Quelle: E&M
AUS DER AKTUELLEN ZEITUNG:
Klotzen statt kleckern
Die Kleinstadt Gettorf soll künftig klimaneutral mit Wärme versorgt werden: mit Strom aus Wind und Sonne, Speichen und Satelliten-BHKW.  
 
„Es herrscht große Nachfrage“, sagt Erk Friedrichs in seinem Vertriebsbüro im Herzen Gettorfs (Schleswig-Holstein). „Als die Energiepreise und die Versorgungsangst im August vergangenen Jahres in die Höhe schnellten, haben wir allein in dem Monat 70 neue Aufträge für eine Wärmeversorgung abgeschlossen.“

Inzwischen ist der Ansturm etwas abgeebbt, doch nach wie vor ist das Interesse sehr hoch. So hat Betriebswirt Friedrichs mittlerweile über 260 Verträge in petto: Alle wollen mit dem kommenden Wärmenetz der Bioenergie Gettorf GmbH & Co. KG verbunden sein und beliefert werden. Die nötige Energie dafür kommt von einer Biogasanlage in der Nähe der Stadt. Huckepack werden im öffentlichen Raum Stromleitungen gelegt, die es Kunden ermöglichen sollen, ihre E-Autos direkt mit Strom aus der Biogasanlage zu laden. „Vor allem die älteren Leute im Ort wollen jetzt handeln“, sagt Friedrichs, „die wollen endlich weg von der Ölheizung und etwas fürs Klima und für ihre Enkelkinder tun.“

Wer mit den Passanten in Gettorf über das Thema Biogas spricht, erfährt erstaunlich viel Akzeptanz, obgleich auch eine Bürgerinitiative im Ort existiert, die gegen den Bau eines weiteren Blockheizkraftwerks (BHKW) der Bioenergie Gettorf wetterte. „Die große Mehrheit der Bevölkerung hat aber mittlerweile die Chancen erkannt, die wir als Kommune durch das neue Wärmenetz erhalten“, setzt Bürgermeister Hans-Ulrich Frank auf die Einsicht der bisherigen Kritiker. „Je konkreter nun das Vorhaben Gestalt annimmt, desto mehr Rückenwind bekommt es. Die früheren Einwände wie Lärm und Geruch verstummen“, registriert der CDU-Politiker auf den letzten öffentlichen Versammlungen der 8.000-Einwohner-Gemeinde. Und tatsächlich, so Erk Friedrichs, gebe es schon jetzt mehr als 500 interessierte Hausbesitzerinnen und Hausbesitzer. Von daher ist der Vertriebsprofi sich sicher, dass die Bioenergie Gettorf schon bald einen Kundenstamm von 1.000 Wärmekunden erreicht haben wird. Das wäre dann rund ein Drittel aller Haushalte in der Kleinstadt.

Allerdings gibt es das Gettorfer Nahwärmenetz erst in Teilen. Die Komplettversorgung des Ortes existiert bisher nur auf Plänen, die der Gründer der Gettorfer Bioenergie, Martin Lass, mit Begeisterung auf einen wandgroßen Digitalbildschirm wirft. Dabei müht sich Lass mit den Mitarbeitenden des Partnerunternehmens Agrarservice Lass GmbH (ASL) schon seit geraumer Zeit mit genehmigungs- und baurechtlichen Problemen. Denn Kabel und Rohre von der Biogaserzeugung bis zum Verbraucher zu legen, sei genehmigungsrechtlich kein Zuckerschlecken. Alles muss im Einvernehmen mit der Kommune durchdekliniert werden.

Hohe Flexibilität der Anlage wird mit mehreren Speichern und BHKW erreicht


Bisher werden von der Biogasanlage, die Lass mit seinem Landwirtskollegen Richard Bonse 2009 in der Gemeinde Tüttendorf an den Start gebracht hat, rund 80 Haushalte, ein großes Hospiz, der lokale Tennisklub und ein Schul- und Sportkomplex mit Wärme versorgt. „Wir kommen voran und am Ende werden alle unsere Mühen belohnt“, ist Lass überzeugt.

Auch bundesweit ist er kein Unbekannter. Lass gehört zu den lautesten Befürwortern der Flexibilisierung. Er selbst hat seine Biogasanlage inzwischen fünfmal überbaut. Aus dieser offensiven Strategie heraus, die viele Betreiberkolleginnen und -kollegen bekanntermaßen nicht mitgegangen sind, ist die Idee eines regenerativen Speicherkraftwerks entstanden, das er als Dienstleister beispielsweise bei Mathias Schwartz in Langwedel erstmals errichtete. Und vor zwei Jahren hat Lass auf seiner eigenen Biogasanlage in Tüttendorf den größten Biogasspeicher Deutschlands gebaut. Er hat eine Größe von 44.000 Kubikmetern, ist drucklos und speichert Biogas mit einer Arbeit von 90.000 kWh. Das ist ungefähr die Menge, die die Anlage der Bioenergie Gettorf in 60 Stunden produziert.
 
Die Biogasanlage in Gettorf mit einem rund 40.000 Kubikmeter großen Biogas- und Wärmespeicher für die Nahwärmeversorgung
Quelle: Jörg Böthling

Nicht zuletzt wegen dieses großen Speichers erhielt sie kürzlich vom Fachverband Biogas die Auszeichnung als eine „der besten Biogasanlagen Deutschlands“. Wieso eine der besten? Weil Lass das gesamte System im Blick hat und neben dem groß dimensionierten Gasspeicher zusätzlich weitere Wärmepufferspeicher und Satelliten-BHKW installierte. Dadurch erreicht seine Anlage eine Flexibilität, die sie in die Lage versetzt, die BHKW-Motoren wirklich nur noch dann hochzufahren, wenn nicht ausreichend Wind- und Solarenergie erzeugt wird. Dadurch kann er entsprechend höhere Preise erzielen. Martin Lass ist sich sicher: „Spätestens ab 2030 wird kein Biogasmotor mehr als 2.500 Stunden im Jahr in Betrieb sein.“

„Spätestens ab 2030 wird kein Biogasmotor mehr als 2.500 Stunden im Jahr in Betrieb sein“

Ohnehin denkt Lass in Dimensionen und Perspektiven, die sich schon an einer Zeit orientieren, in der es das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) vielleicht schon gar nicht mehr gibt. Es geht ihm als Energieerzeuger und Wärmeversorger vielmehr um reale Lastgänge und -kurven, um Speicher- und Liefermanagement, denn um Vergütungen, Ausschreibungsgebote und dergleichen. „Wir müssen endlich aus dem Quark kommen, denn mit dem bestehenden Rechtsrahmen ist die Energiewende als Ganzes nicht zu bewältigen“, meint er, „es gibt einfach eine massive Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die wir nur überwinden, wenn Wind, Solar und Biogas energiewirtschaftlich enger zusammenrücken.“ So kann er sich im smarten Zusammenspiel dieser drei Energiequellen sogar ein Inselnetz für Gettorf vorstellen, bei dem die Ladesäulen im Ort mit 100 Prozent erneuerbarem Strom aus seinem Unternehmen betrieben werden können. Dabei amortisieren sich die zusätzlichen Kosten zum Bau eines lokalen Ladesäulennetzes durch eine Dreifachanrechnung der Treibhausgasquote auf die zu tankende Kilowattstunde ziemlich schnell, sagt Lass.

Insgesamt plant er für sein Vorhaben mit einer installierten Kraftwerksleistung von 15,2 MW. Davon stehen 3,1 MW an den Fermentern, 4,6 MW am ersten BHKW-Satellit und dann eine weitere Einheit mit 4,6 MW im Heizhaus Gettorf, wo bilanziell grünes Gas aus dem Netz bezogen wird. Ein noch zu bauendes BHKW am Friedhof von Gettorf, gegen das die Bürgerinitiative aufgrund befürchteter Emissionen aufbegehrte, liefert 2,9 MW. Baubeginn ist noch in diesem Jahr, damit das Nahwärmenetz spätestens Ende 2024 voll einsatzbereit ist.

Ob dieses neue BHKW dann schon mit einer Brennstoffzelle vom Start-up-Unternehmen Reverion aus Bayern ausgestattet sein wird, bleibt offen, aber es wäre der absolute Wunsch von Lass. „Mit der Brennstoffzellentechnik von Reverion steigern wir unsere Effizienz noch mal um das Doppelte. Und wir können innerhalb kürzester Zeit Gas zu Strom machen und den Strom wieder zu Gas, Wasserstoff und Methan“, begeistert sich Lass an der Innovation, die am Ende viel Maisfläche bei gleicher Energiemenge einsparen soll. Die Erwartungen an Reverion sind also groß, würde dadurch doch, wenn sich der Wirkungsgrad wirklich verdoppeln ließe, das Ende der Ära der herkömmlichen BHKW-Motorentechnik eingeläutet.
 
Martin Lass, Gründer der Gettorfer Bioenergie, zeigt die Pläne für den Ausbau des Wärmenetzes
Quelle: Jörg Böthling

Gründer Stephan Herrmann und sein junges Team lassen ebenfalls keinen Zweifel daran, dass sie die Biogasbranche in den nächsten Jahren revolutionieren wollen. „Es ist nicht die Brennstoffzelle selbst, die an unserer Entwicklung neu ist“, erklärt Hermann, „es ist das System, das wir entworfen haben, das ist innovativ.“ Mehrere Jahre hat sich der Physiker und promovierte Maschinenbauer mit der Materie beschäftigt und mit Reverion ein paar Patente zur Prozesstechnik angemeldet. Eine erste Pilotanlage wird bald in Cham nordöstlich von Regensburg errichtet, dann will man die Technik rasch höher skalieren.

Uwe Weltecke-Fabricius, bundesweit bekannter Vordenker in Sachen Flexibilisierung von Biogasanlagen und auch eng mit der Gedankenwelt von Lass verbandelt, befürwortet die Innovation ausdrücklich. „Allerdings kostet diese faszinierende Technik noch rund 6.000 Euro pro Kilowatt im Vergleich zu 800 Euro für ein installiertes Kilowatt herkömmlicher Gasmotoren“, wirft Weltecke-Fabricus ein, „da liegt noch eine ganze Welt dazwischen.“ Ohnehin, das räumt auch Lass ein, sei das Geschäftsmodell für Nachfolgeprojekte regenerativer Speicherkraftwerke wie in Gettorf für potenzielle Investoren bei hoher Inflation und steigenden Bau- und Finanzierungskosten angesichts eines fixen Flexzuschlags von 65 Euro pro kW im EEG derzeit im schwierigen Fahrwasser. Weshalb Weltecke-Fabricius für eine Erhöhung des Flexzuschlags auf 80 Euro plädiert; egal: Gettorf macht es vor und wird ganz sicher ohne eine solche Erhöhung seine Wärmewende in Bälde vollenden.
 

Dierk Jensen
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Montag, 19.06.2023, 09:05 Uhr

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